Zwei Filmemacherinnen aus Istanbul
"Alles andere wirkt unwichtig und banal"
Vor Kurzem berichtete ich hier über das ganz besondere Projekt zweier junger, deutscher Filmemacherinnen in Istanbul. Durch die derzeitige Lage hat sich für Marie und Carolin einiges verändert.
Sie sind selbst Teil der Proteste rund um den Gezi-Park und den Taksim-Platz geworden. Ich habe mit den beiden über ihr Leben in Istanbul und das aktuelle Geschehen in der Türkei gesprochen.
Anne: Hallo, ihr zwei. Danke, dass Ihr Euch die Zeit für das Interview genommen habt. Ihr seid ja zurzeit beide ziemlich eingespannt. Seid ihr den ganzen Zeit auf der Straße unterwegs?
Marie Hartlieb: Nicht die ganze Zeit. Aber bis jetzt eigentlich jeden Abend. Anstatt sich auf ein Bier in der Bar zu treffen, verabreden wir uns auf dem Taksim.
Anne: Wie wirkt sich die derzeit sehr angespannte Lage in der Türkei, speziell in Istanbul auf Euer tägliches Leben aus?
Marie Hartlieb: Die Ereignisse in Istanbul und in der Türkei stehen einfach im Vordergrund. Alles andere wirkt unwichtig und banal. Deshalb ist es schwierig einen Alltag hinzubekommen. Man ist eigentlich immer wachsam. Versucht auf dem neusten Stand zu bleiben, durch die sozialen Medien, durch Freunde, durch das Fernsehen. Niemand weiß, was passiert und man hat natürlich Angst, dass die – jetzt friedliche Stimmung in Istanbul trügt und es jeden Moment umschlagen könnte. Ich kann auch kaum schlafen seit einer Woche, und wenn, dann träume ich von den Protesten im Gezi Park.
Es ist schon Ausnahmezustand. Da die Proteste aber jetzt schon seit mehr als 10 Tage andauern, ist es notwendig, etwas Normalität um sich herum zu haben. Man wird ja fast verrückt, wenn man keine Alltäglichkeit um sich herum hat. Ich versuche, mit To-do-Listen irgendwie an das Leben vor den Protesten anzuschließen und Dinge wie: Masterbewerbung, Motivationsschreiben usw. zu machen. Funktioniert eher schlechter. Meistens bleiben die Listen einfach unerledigt.
Anne: Man hört immer wieder von interessanten Begegnungen auf dem Taksim-Platz. Erst gestern las ich, dass sich die sonst verfeindeten Fans der Fußball-Clubs Galatasaray und Fenerbahce gemeinsam zum Demonstrieren getroffen haben. Was war eure bisher interessanteste Begegnung dort?
Carolin Winterholler: Die interessanteste Begegnung war für mich bis jetzt eine Gruppe BDP-Anhänger (also Kurden), die im Park Lieder gesungen und getanzt haben. An und für sich hört sich das ja nicht sehr spannend an, aber es ist ein enormes ein Zeichen für Toleranz.Und natürlich die Fußball-Clubs. Wir waren an dem Abend auch in Taksim und die türkischen Fußballfans, die sich bei Streit untereinander nie zurückhalten, waren absolut friedlich. Und die Clubs können natürlich Menschenmassen mobilisieren. Und wenn die Seite an Seite gegen Erdoğan kämpfen können, ist das ein ausgesprochen gutes Zeichen.
Anne: Habt ihr keine Angst, verletzt zu werden?
"Ich habe Angst!"
Carolin Winterholler: Also ich hatte totale Angst! Angst macht mir aber nicht so sehr das Tränengas, damit kann man umgehen, sondern die Massen von Menschen, die sich bei einem Angriff der Polizei in Bewegung setzten. Fängt da einer zu rennen an, rennen die anderen eben mit. Und obwohl das auf Bildern nicht so rüberkommt, waren es wirklich hunderte von Menschen, dicht an dicht. Deshalb haben wir immer versucht, nah an Straßenkreuzungen oder Hauseingängen zu stehen, in die man sich bei einem Angriff flüchten kann. Angst hatte ich trotzdem!
Anne: Seid ihr schon mal in eine gefährliche Situation gekommen?
Carolin Winterholler: Ja, also wir waren schon mal mitten in einem Tränengas-Angriff. Es war die Hölle. Man kann nichts mehr sehen - weiß also nicht, wo man in seiner Panik hin läuft - kann natürlich nicht mehr atmen und das Zeug brennt am ganzen Körper. Wir konnten uns dann mit anderen Menschen in einen Hauseingang flüchten. Viele haben sich von dem vielen Gas übergeben, waren total verstört, haben geweint. Da wir bei dem Angriff recht weit weg von der Polizei waren und die Menschen um uns herum ausnahmslos friedlich, war niemand auf den Angriff vorbereitet.
Anne: Was hat es eigentlich mit den Zitronen auf den Plakaten der Demonstranten auf sich?
Marie Hartlieb: Zitronensaft ist ein wirksames Mittel gegen einige Tränengase. Allerdings benutzt die Polizei unterschiedliche Pfeffer- und Tränengase. Die Reaktionen auf diese Gase sind alle unterschiedlich und auch die Mittel, die gegen die Symptome helfen. Teilweise sind die Gase schon abgelaufen, weil die Polizei einfach so einen riesigen Verbrauch hat. Ich hoffe, dass es bei den Demonstranten zu keinen bleibenden Schäden kommt. Anne: Marie erzählte mir vor Kurzem, dass ein Interview, das eine Journalisten mit ihr gemacht hatte, auf Grund des politischen Bezugs wieder gelöscht wurde. Das finde ich ganz schön heftig. Habt ihr sonst noch mit weiteren Einschränkungen zu kämpfen?
Carolin Winterholler: Die Zensur der türkischen Medien ist allgegenwertig und wird bei den Protesten besonders deutlich. Anfangs wurde gar nicht berichtet. Dann waren es nur "ein paar" Demonstranten. Am Abend der ersten Demonstrationen zeigte CNN Türk eine Dokumentation über Pinguine (die mittlerweile zum Symbol des Protestes geworden sind) und hatte mit keinem Wort die Proteste im eigenen Land erwähnt – Zensur pur! Und als sie sich dann doch entschlossen hatten zu berichten, hat der Senders NTV, in einer Live-Übertragung vom Taksimplatz, das "Tayyip" auf einem Plakat wegretuschiert, auf dem "Kes sesini Tayyip" (Sei still Tayyip) stand. Nach Erdoğans Rede am Attatürk Flughafen – einer Gegenveranstaltung zu den Protesten im Gezi Park – hatte sechs Tageszeitungen die gleichen Überschrift auf dem Titelblatt. Teilweise ist es schon makaber, wie die Medien in derTürkei berichten. Anne: Wie ist es, als Ausländerin bei den Protesten dabei zu sein? Wie werdet Ihr aufgenommen?
"Als Ausländer ist man kein Außenseiter"
Marie Hartlieb: Die Protestierenden sind eine so heterogene Gruppe. Da ist man nicht unbedingt "Außenseiter" als Ausländer. Ich glaube, neben den Forderungen, die die unterschiedlichen Gruppen haben, sind die Dinge, derer wir uns alle einig sein können, und die durch die Proteste angestrebt werden: Meinungs- und Äußerungsfreiheit und Toleranz. Und das ist auch das, wofür ich als hier lebende Ausländerin auf die Straße gehe.
Anne: Wenn man die Bilder auf Facebook und im Fernsehen sieht, hat man das Gefühl, ganz Istanbul ist auf der Straße. Sind viele Nationen bei den Protesten vertreten?
Carolin Winterholler: Ich hab noch nie so viele Menschen auf Istanbuls Straßen gesehen - und Istanbul ist immer voll. Außerdem gibt es fast täglich Proteste kleinerer, zersplitterter (politischer) Gruppen. Doch jetzt sind zum ersten Mal alle zusammen auf der Straße - und das sind jede Menge Menschen.
Anne: Am Freitag, 7.6. hielt Ministerpräsident Erdoğan auf dem Taksim-Platz eine Rede, um die Bürger auf seine Seite zu ziehen. Habt ihr das Gefühl, dass das das Volk noch mehr zusammengeschweißt hat? Oder führte das zu einer Gegenbewegung?
Marie Hartlieb: Die Proteste sind ja geprägt von einem sehr speziellen, ironischen Humor hier. Ein Bild, das im Internet kursiert sind zwei Hände die einander näher kommen (Wie die Nokia – Werbung) und darunter der Spruch: Tayip (Erdoğan) connecting People. Und da ist etwas Wahres dran. Diese Bewegung verbindet unterschiedlichste Kulturen, Menschen mit diversen politischen Einstellungen usw. Doch was sie vereint ist die Unzufriedenheit mit dem Regime, mit Erdoğan. Diejenigen, die die Regierung unterstützen, sind da nicht dabei. Und leider hat Erdoğan in seinen zwei letzten Ansprachen seine Anhänger motiviert. Das macht natürlich Angst. Das Erdoğan nicht die Versöhnung sondern den Streit sucht. Und versucht, AKP – Unterstützer zu mobilisieren. Da fallen dann so Worte wie "Bürgerkrieg". Und das ist sehr beunruhigend.
"Istanbul ist eine moderne, politisch aufgeklärte Stadt!"
Anne: Istanbul ist eine sehr moderne, politisch aufgeklärte Stadt, in der sehr viele junge Menschen leben. Wie schätzt Ihr die Lage auf dem Land ein?
Carolin Winterholler: Wenn man weiß, wie die Medien berichten, werden die Menschen auf dem Land nicht viel von Erdoğans Machenschaften, Gesetzesreformen etc. wissen. Außerdem ist bekannt, dass die AKP Lebensmittel, Elektroartikel und Ähnliches in ländlichen Gebieten - die eine Großteil der Türkei ausmachen - verteilt, um Stimmen für die Wahlen zu sammeln. Deshalb sind viele Menschen auf dem Land wohl auch pro AKP.
Istanbul ist aber leider nicht die Türkei. Die Menschen dort haben andere Prioritäten und ihnen ist es wahrscheinlich egal, ob die Schulpflicht für Kinder verkürzt, das Alkoholgesetz verschärft oder reihenweise Internetfilter eingeführt werden.
Anne: Ihr habt ja schon einige Bilder gemacht. Beschreibt das, welches euch am längsten in Erinnerung bleiben wird, ohne, dass Ihr es anschauen müsst.
Marie Hartlieb: Für mich sind das einfach Menschenmassen. Soweit das Auge reicht. Ein Strom von Menschen. Und die Energie, die von diesen Menschen ausgeht. Hoffnung auf Freiheit. Und damit ein unglaubliches Gefühl von Glück. Das kann man auf den Fotos glaube ich aber eher schlecht einfangen.
Anne: Beschreibt mir die Lage in 140 Zeichen.
Carolin Winterholler: Ungewiss! Alle warten gespannt darauf, wie es mit der Türkei politisch weiter geht, welche Forderungen gestellt werden und was nach den Protesten kommt.
Anne: Stand es für Euch jemals zu Diskussion, Istanbul zu verlassen, als Ihr von der Demonstration der Umweltschützer im Gezi-Park, bei der es sogar Tote gegeben hat?
Marie Hartlieb: Ich war für meine mündliche Bachelorprüfung in Deutschland, als die Proteste losgingen. Ich hatte meinen Flug schon gebucht und bin auch zurückgeflogen. Natürlich habe ich darüber nachgedacht, nicht hinzugehen. Vor allem, weil ich nicht wollte, dass meine Familie sich Sorgen macht. Aber eine Freundin meinte: "Marie, hier wird Geschichte geschrieben. Und irgendwie bist du auch Teil dieses Landes geworden. Du musst das sehen." Und sie hat Recht. Das, was hier geschieht, das muss man sehen. Das ist unglaublich. Ich hoffe nur, es verläuft weiterhin friedlich.
Anne: Gibt man Gezi-Park in die Suchmaschine ein, liest man immer noch von schweren Krawallen und davon, dass nie jemand verletzt wurde. Im Fernsehen wird selten darüber berichtet und wenn dann nur sehr oberflächlich. Was haltet Ihr davon? Was muss getan werden, um die Berichterstattung zu verbessern?
"Die deutsche Berichterstattung begeistert mich!"
Carolin Winterholler: Ich muss sagen, dass ich von der deutschen Berichterstattung begeistert bin. Alle großen deutschen Medien sind mit Korrespondenten in Istanbul vertreten und das beeinflusst die Berichterstattung enorm. Ich lese morgens immer etwas in den deutschen Nachrichten und fühle mich gut informiert. Das gleiche gilt auch für internationale oder türkisch/internationale Medien wie zum Beispiel Hürriyet Daily News.
Was türkische Medien anbelangt, sieht die Sache schon anders aus. Man muss wissen, dass in der Türkei fast alle Medien zu großen Firmen gehören und das macht sie natürlich abhängig von der Regierung. Solange es keine unabhängigen Medien in der Türkei gibt, wird sich an der einseitigen Berichterstattung wohl nichts ändern.
Anne: Was bedeutet der Aufbruch, der gerade stattfindet, für Euer Filmprojekt ?
Marie Hartlieb: Das kann man schwer sagen, ich glaube, das hängt davon ab, wie es jetzt hier weitergeht. Einer unserer Protagonisten, ein Deutschtürke, äußerte, dass er die Türkei als Arbeits- und Lebensort nicht mehr in Erwägung ziehen würde, nach seiner Erasmuserfahrung. Wegen der Menschen und dem politischen Druck. Ich hoffe, dass durch die Bewegung die Chance erneut eröffnet wird für ihn, die Türkei als ein offenes, hoffnungsvolles Land zu sehen mit kreativen, freien und humorvollen Menschen.
Anne: Zum Schluss noch ein paar persönliche Fragen an euch: Wie und wann habt ihr euch kennengelernt?
Marie Hartlieb: Wir haben an der selben Universität Erasmus gemacht und uns so durch Freunde kennen gelernt. Aber so richtig regelmäßigen Kontakt haben wir erst, seitdem wir beide hier arbeiten.
Anne: Ihr lebt jetzt seit rund 2 Jahren in Istanbul. War es schon immer Euer Traum, einmal dort zu leben?
Marie Hartlieb: Eigentlich nie. Das war Zufall. Ich habe von der Türkei und von Istanbul vorher wenig gewusst. Durch das Auslandsjahr habe ich Freunde gewonnen und die Stadt, ihre Möglichkeiten und ihre Atmosphäre lieben gelernt. Durch ein Jobangebot bin ich dann zurückgekehrt.
Anne: Wodurch unterscheidet sich das Leben in einer türkischen Großstadt am meisten von dem in Deutschland?
Carolin Winterholler: Haha... es unterscheidet sich wirklich in ALLEM. Ein kleines Beispiel: Nach einem Tag in meiner neuen Wohnung wusste jeder in der Straße meinen Namen, dass ich aus Deutschland komme und hier mit meinem Freund zusammenwohne. Kurz gesagt, die Menschen sind sehr aufmerksam und wollen genau wissen, was um sie herum passiert – Ganz anders als in Deutschland.
Außerdem ist es natürlich extrem vielfältig, laut, chaotisch, aufregend, voll, unstrukturiert, dreckig, lebhaft, teilweise gefährlich – so etwas findet man in keiner deutschen Großstadt.
Anne: Was liebt ihr am meisten an Istanbul?
"Wir lieben Istanbuls Lebendigkeit!"
Marie Hartlieb: Die Lebendigkeit, die Offenheit, und das Gefühl, dass hier jede noch so absurde Idee wichtig und realisierbar ist. Die Menschen machen diese Stadt aus. Die Türkei ist ein Land bestehend aus vielen Nationen und in Istanbul ist Schmelz – und Rangelpunkt dieser Unterschiede. Diese ganz besondere Situation führt dazu, dass hier Dinge noch entwickelt werden, noch nicht definiert und festgefahren und für richtig oder falsch befunden wurden. Das schafft viel Freiheit.
Anne: Was vermisst ihr am meisten an eurem Zuhause?
Marie Hartlieb: Manchmal die Ruhe. Und das Grün. Istanbul ist sehr zugebaut. Tag und Nacht ist etwas los. Man ist nie allein. Und das braucht man aber manchmal.
Anne: Beschreibt mir einen typischen Werktag in Istanbul.
Carolin Winterholler: Ich arbeite zur Zeit von zu Hause aus und versuche meinen Tag so normal wie möglich zu strukturieren: früh aufstehen, arbeiten, Mittagessen und abends irgendwie rausgehen. Nichts besonderes, also.
Anne: Was war für euch das bisher größte Highlight während eures Istanbul-Aufenthaltes?
Carolin Winterholler: Das größte Highlight ist, so traurig es auch ist, der Protest. Niemand hätte gedacht, dass die Türken Erdoğan mal die Stirn bieten – obwohl ich es insgeheim immer gehofft hatte.
"Wir freuen uns, zurückzukommen"
Anne: Plant ihr, irgendwann zurückzukommen?
Marie Hartlieb: Ich bewerbe mich zur Zeit auf einen Master in Deutschland. Weiß aber, dass ich das nur mit ständigen Istanbul-Besuchen "durchhalten" kann. So wird es dann wohl für mich aussehen in den nächsten zwei Jahren. Zwischen zwei Welten. Was danach kommt, und in welcher ich hängen bleibe, keine Ahnung.
Anne: Fühlt ihr euch in Istanbul zu Hause? Was bedeutet das für euch: Ein Zuhause?
Carolin Winterholler: Ja, auf jeden Fall. Ich bin gerne in Deutschland, freue mich aber immer wieder nach Istanbul zurückzukommen. Obwohl meine Familie in Deutschland ist, habe ich mich dort nie richtig zu Hause gefühlt. Hier in Istanbul ist das anders.
Zuhause? Mhhh... für mich ist das der Ort, an dem ich mich geborgen und sicher fühle. Das hat für mich nicht so sehr etwas mit der Vergangenheit, sondern eher mit der Gegenwart, zu tun.
Anne: Vielen Dank für das Interview!
Das könnt Ihr tun, um die Proteste zu unterstützen. Bitte lesen! Dauert nur 5 Minuten!